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Wie Universitätsklinika mit Innovationen zu einer besseren Medizin beitragen

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Jedes Jahr kommen neue Medikamente, Geräte und Hilfsmittel auf den Markt, neue Verfahren werden etabliert. Manche erweisen sich als echter Durchbruch: Solchen Neuerungen ist es zu verdanken, dass Mediziner Krankheiten schonender und wirksamer denn je diagnostizieren und behandeln können. Mit der stetig wachsenden Zahl hochwirksamer Arzneistoffe, leistungsfähiger Therapieverfahren und aussagekräftiger Diagnosemethoden verlieren selbst lebensbedrohliche Erkrankungen wie Krebs, Herzinfarkt oder Aids mehr und mehr ihren Schrecken. Durch ihre Forschungskompetenz und ihre breit gefächerte medizinischen Leistungskraft treiben die Universitätsklinika in Deutschland Neuentwicklungen voran.

Denn Fortschritt ist keine Einbahnstraße: Oft stammen Impulse und Ideen für bahnbrechende Verbesserungen direkt aus der Versorgungsrealität am Klinikbett. Mindestens ebenso wichtig ist die Rolle der Universitätsklinika in der Evaluation von Neuerungen. Denn nicht jede neue Technik, jedes neue Medikament ist per se besser als bereits Vorhandenes. Es braucht wissenschaftliche Unabhängigkeit und ausgewiesene klinische Expertise, um die wirklichen Fortschritte zu identifizieren. Führende Mediziner an den Universitätsklinika engagieren sich darüber hinaus in den Fachgesellschaften. Deren Aufgabe ist es, die Leitlinien zur Behandlung der unterschiedlichen Krankheitsbilder zu verfassen. Haben Neuerungen ihren Nutzen zuverlässig unter Beweis gestellt, werden sie möglichst rasch in diese Leitlinien eingearbeitet und können jetzt in der Regelversorgung allen Patienten zugutekommen.

Innovationen sind selten Selbstläufer: Neue Ideen und Methoden brauchen oftmals das Engagement von herausragenden Forscherpersönlichkeiten und von Medizinern, die sich mit den vorhandenen Möglichkeiten für ihre Patienten nicht zufrieden geben, wie die folgenden Beispiele zeigen:

Mediziner in Australien, den USA und Österreich gelang in den 1970er Jahren die Entwicklung erster Mehrkanal-Innenohrprothesen, die Schallwellen auffingen, in elektrische Signale umwandelten und an den Hörnerv weitergaben. Diese Entwicklung griffen HNO-Ärzte und Techniker der Medizinischen Hochschule Hannover Anfang der 1980er Jahre auf und trieben sie maßgeblich mit voran. Hier wurde 1984 das erste Cochlear Implantat einer ertaubten Patientin eingesetzt; die Mediziner konnten zeigen, dass mit der Prothese ein ausreichendes Sprachverständnis für den Alltag möglich war. Damit begann die Erfolgsgeschichte des Cochlear Implantats. Bereits 1990 wurde in Hannover das erste Cochlear Zentrum in Deutschland gegründet, weitere Universitätskliniken folgten in den 1990er Jahren.Mittlerweile werden pro Jahr allein in Deutschland rund 3.000 Menschen mit Cochlear Implantaten versorgt. Die jüngsten Patienten sind erst wenige Wochen alt, ihnen gibt das Cochlear Implantat die Möglichkeit, trotz angeborener Gehörlosigkeit normal sprechen zu lernen und später eine normale Schule zu besuchen. Die ältesten Patienten sind über 90 Jahre alt. Die Weiterentwicklung der Technik ermöglicht es, das eigene Resthörvermögen zu erhalten, und so kommt das Cochlear Implantat längst nicht mehr nur bei Taubheit zum Einsatz, sondern verbessert auch das Sprachverständnis bei Schwerhörigen, bei denen normale Außenohr-Hörgeräte nicht mehr ausreichen. Fast alle derzeit auf dem Markt befindlichen Sprachprozessoren basieren auf Forschungsarbeiten der Mediziner, Wissenschaftler und Techniker an der MHH.

© Verband der Universitätsklinika Deutschlands e. V. (VUD): Ausgewählte Innovationen in der Medizin
© Verband der Universitätsklinika Deutschlands e. V. (VUD): Ausgewählte Innovationen in der Medizin

Einen ähnlichen Erfolg erhoffen sich Blinde mit bestimmten Netzhauterkrankungen rund 30 Jahre später für das am Universitätsklinikum Tübingen entwickelte Retina Implantat: Es besteht im Kern aus einem lichtempfindlichen Sensorfeld, das zwischen Netzhaut und Aderhaut des Auges eingesetzt wird. Hier wandelt das Implantat Lichtstrahlen in elektrische Signale um. Zwar erscheint eine vollständige Wiederherstellung der Sehkraft nach heutigem Stand der Technik nicht möglich. Derzeit laufende klinische Studien belegen aber, dass Blinde durch das Implantat zumindest einen groben optischen Eindruck von ihrer Umgebung erhalten. Menschen mit fortgeschrittener Retinitis pigmentosa, einer bislang unheilbaren Netzhauterkrankung, die typischerweise im frühen Erwachsenenalter beginnt, bringt diese Innovation einen deutlichen Gewinn an Lebensqualität: Sie können Gegenstände lokalisieren und sich selbstständig im Raum orientieren.

Gemeinsam mit Medizinern und Molekularbiologen am Universitätsklinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München forschen die Tübinger Spezialisten zudem an neuartigen Gentherapien, mit denen sich erblich bedingte Netzhautdegenerationen wie Retinitis pigmentosa künftig heilen lassen könnten. Im Rahmen eines europaweiten Forschungsprojektes steht derzeit außerdem ein neuartiges Medikament im Fokus, das die Blut-Hirn-Schranke überwinden und somit ihre Wirkung direkt an der sonst schwer zugänglichen Netzhaut des Auges entfalten kann.

Ebenfalls noch am Anfang steht eine andere Entwicklung: Exoskelette für Querschnittsgelähmte. Erste Produkte auf dem Medizintechnik-Markt kommen bislang vor allem unter den kontrollierten Bedingungen klinischer Studien in der Rehabilitation zum Einsatz. Am Universitätsklinikum Greifswald beispielsweise wird ein solches Gerät für Patienten genutzt, die nach Wirbelsäulenverletzungen nicht komplett gelähmt sind: Sie können damit ihre Muskulatur stärken, verbliebene Fähigkeiten trainieren und insgesamt ihre Mobilität verbessern. Mediziner, Ingenieure und Materialwissenschaftler arbeiten an der Weiterentwicklung der Technik. Die neueste Gerätegeneration etwa lässt sich durch Nervenimpulse der Patienten selbst steuern. In Zukunft, so hoffen Neurologen und Orthopäden, könnten weiterentwickelte Exoskelette gelähmte Menschen auch im Alltag sinnvoll unterstützen.

Bei der Volkskrankheit Diabetes muss der Blutzuckerspiegel durch Medikamente auf einen normalen, für den Körper erträglichen Wert gesenkt werden. Wenn das durch Tabletten nicht mehr möglich ist, kommen Spritzen zum Einsatz – doch das führt bei manchen Diabetikern zu lebensbedrohlichen Schwankungen im Blutzuckerspiegel. Dafür gibt es implantierbare Insulinpumpen. Die ersten derartigen Geräte kamen bereits vor Jahrzehnten auf den Markt. Moderne Systeme sind klein wie ein Mobiltelefon und ahmen die physiologische Funktion der Bauchspeicheldrüse nach: Je nach Bedarf wird in Abständen von einigen Minuten eine kleine Insulindosis über die Bauchdecke in den Organismus abgegeben. Mediziner unter anderem am Universitätsklinikum Düsseldorf tragen mit ihrer klinischen Forschung dazu bei, diese Technik immer weiter zu verbessern. Ein anderes Verfahren setzt auf lebende Inselzellen: Anders als technische Pumpen, die auf einen zusätzlichen Glukosesensor zur Steuerung angewiesen sind, können diese Zellen die Ausschüttung von Insulin „von Natur aus“ nach dem Blutzuckerspiegel regulieren. Am Universitätsklinikum Dresden wurden im Rahmen einer klinischen Studie mehrere Typ 1-Diabetiker mit einem Bioreaktor versorgt, der lebende Inselzellen enthält. Beim jetzigen Entwicklungsstand arbeiten die Implantate bis zu einem Jahr stabil und zuverlässig. Wissenschaftler und Mediziner der Universitätsklinika Freiburg, Leipzig und München forschen unterdessen an wirksamen Stammzell-Therapien für Diabetiker. Bis aus ersten erfolgversprechenden Ansätzen ein wirksames Verfahren heranreift, sind allerdings noch viele Entwicklungsschritte nötig.

Bei bestimmten Leukämie-Formen ist die Stammzelltransplantation dagegen als Therapieoption längst etabliert. Weil die körpereigenen Blutstammzellen des Patienten keine gesunden Zellen mehr hervorbringen können, wird ihr blutbildendes System zerstört und sie erhalten die gesunden Stammzellen eines Spenders. Die Stammzelltransplantation kommt in der Regel erst zum Einsatz, wenn Chemotherapie und Bestrahlung versagen. Sie hat die Überlebenschancen der betroffenen Patienten deutlich erhöht. Spezialisten unter anderem an den Universitätsklinika Dresden, Heidelberg, Tübingen und der Medizinischen Hochschule Hannover arbeiten an der Weiterentwicklung der verfügbaren Verfahren, um ihre Wirksamkeit und Sicherheit noch weiter zu verbessern. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), dem die Prüfung innovativer Therapien obliegt, empfiehlt zwar weiterhin einen Einsatz der Stammzelltransplantationen ausschließlich im Rahmen klinischer Studien. Angesichts aktueller Daten aus großangelegten klinischen Studien gehen führende Hämato-Onkologen jedoch davon aus, dass das Verfahren reif für den Einsatz in der regulären Gesundheitsversorgung ist.

Beim Brustkrebs haben sich die Überlebenschancen durch eine verbesserte Früherkennung und neue, schonendere Therapieoptionen ebenfalls deutlich erhöht. Innovative Verfahren zur Gendiagnostik tragen entscheidend dazu bei: Sie ermöglichen zunehmend genauere Aussagen zum individuellen zellulären Stoffwechsel im Tumor und im gesunden Gewebe der Patientinnen. Damit können die Ärzte im Vorfeld abschätzen, welches Medikament am besten wirkt. Unter Koordination des Klinikums der Ludwig-Maximilians-Universität München wurde kürzlich eine deutschlandweite klinische Studie zu einem neuentwickelten Gentest abgeschlossen, der das individuelle Expressionslevel für insgesamt 50 relevante Gene bei Patientinnen mit frühem Brustkrebs ermittelt. Die ersten Ergebnisse sind vielversprechend: Bis zu 40 Prozent* der Patientinnen konnte eine belastende Chemotherapie erspart werden, weil ihr Risiko, innerhalb von 10 Jahren einen Rückfall zu erleiden, nur sehr gering ist. Eine endgültige Bewertung steht noch aus, dafür ist eine längere Nachbeobachtungszeit erforderlich.

Engagement der Universitätsklinika im Kampf gegen Krebs

Neue Ansätze aus der Grundlagenforschung

Auch wenn die Stammzellen ihr Image als „Alleskönner“ in den Augen vieler Patienten wieder verloren haben und manches darauf basierende, neu entwickelte Heilverfahren etwa gegen Parkinson oder Multiple Sklerose sich bislang als ein Irrweg erwies, so ist doch das Potenzial dieser Zellen in der Medizin noch lange nicht ausgereizt. Orthopäden aus Würzburg erforschen beispielsweise, ob patienteneigene Stammzellen aus dem Fettgewebe gegen Arthrose helfen: Sie könnten zumindest die schmerzhaften Entzündungsprozesse in Hüfte oder Kniegelenk stoppen, hoffen die Mediziner. Gefäßspezialisten am Universitätsklinikum Münster sind an einer internationalen multizentrischen Studie beteiligt, in der die Wirksamkeit von Stammzellen bei der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit überprüft wird: Pilotstudien haben hier erfolgversprechende Ergebnisse gebracht. Über den Nutzen von Stammzellen-Präparaten nach Herzinfarkt wird in der Fachwelt kontrovers diskutiert. Klinische Studien zeigten zwar eine Erhöhung der Pumpleistung um durchschnittlich etwa 14 Prozent, jedoch hatte die Behandlung keinen nachweisbaren Einfluss auf die Überlebensrate der behandelten Patienten.

Die thematisch breit aufgestellte Grundlagenforschung an Deutschen Universitätsklinika treibt medizinische Innovationen in vielen Bereichen entscheidend mit voran: So gelang es beispielsweise Wissenschaftlern am Universitätsklinikum Heidelberg, die molekularen Mechanismen zu ergründen, mit denen sich das Hepatitis C-Virus in der Leber einnistet und trotz Angriffen des Immunsystems in den Leberzellen über Jahre persistiert. Mit ihrer Forschungsarbeit konnten sie gleich mehrere potenzielle Angriffsstellen für neue Therapien identifizieren. Auf dieser Basis wurden mittlerweile neuartige Wirkstoffe bis zur Marktreife entwickelt.

Fortschritt ist keine Einbahnstraße

Ein fruchtbares Feld für technische Innovationen ist traditionell die Chirurgie. Skalpell und Klemme, für Laien der Inbegriff des chirurgischen Bestecks, kommen zwar nach wie vor zum Einsatz, zunehmend aber nur als Vorbereiter und Begleiter hoch spezialisierter Instrumente. Diese werden immer weiter verfeinert, um im OP sicher, schnell und präzise vorgehen zu können. Viele erfahrene Chirurgen passen ihr Instrumentarium zudem auf individuelle Besonderheiten des Patienten und seiner jeweiligen Erkrankung an. Solche Einzelanfertigungen und Spezialentwicklungen können Ausgangspunkte für Innovationen sein, die weiteren Patienten helfen. Manche technischen Lösungen wurden eigens entwickelt, um schonende Methoden einem breiteren Patientenkreis zugänglich zu machen. So trat in den 1990er Jahren die minimalinvasive Chirurgie ihren Siegeszug zunächst in der Bauchchirurgie an. Winzige Schnitte statt großer Wunden sorgen für eine deutlich verkürzte Heilungsphase, die Patienten konnten viel schneller wieder das Bett verlassen. Allerdings waren die Einsatzmöglichkeiten der „Schlüsselloch-Chirurgie“ zunächst noch sehr begrenzt, denn der Chirurg muss dabei in 20 Zentimetern Entfernung über Manipulatoren unter Kamerasicht hantieren. Es erwies sich als schwierig, unter diesen Bedingungen beispielsweise eine Blutung durch eine Naht zu stoppen – ist die Naht zu straff angelegt, kommt es zum Absterben von Gewebe, ist sie zu locker, wird die Blutung nicht unterbunden. Forscher und Entwickler der Fraunhofer Gesellschaft und verschiedener Medizintechnik-Hersteller nahmen sich gemeinsam mit Medizinern des Universitätsklinikums Aachen dieses Problems an und entwickelten spezielle Naht-Applikatoren, mit denen sich die Fadenspannung optimal regulieren lässt. Diese und viele andere Innovationen trugen letztlich dazu bei, dass minimalinvasive Eingriffe sich heute bei vielen Indikationen in sämtlichen chirurgischen Fächern als Standard etabliert haben. Die stetig wachsende Zahl der ambulant durchgeführten Operationen wäre ohne diese Entwicklung nicht denkbar.

Bildquellen:

  • VUD_Hintergrundpapier_2015-07_08_Innovationen: ©Verband der Universitätsklinika Deutschlands e. V. (VUD)
  • Zwei Operateure mit einer Schwester und zwei OP-Leuchten in neuen OP-Sälen: ©Klinikum rechts der Isar der TU München