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Was kann man in der Arztpraxis von schlanken Industrieunternehmen lernen?

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PharmaBarometer-Gespräch Wie sich Lean-Management in der Arztpraxis umsetzen lässt und welche Erfolge damit erreichbar werden.

Der Wertschöpfungsexperte Dr.-Ing. Oliver Prause propagiert die Anwendung industrieller Lean-Systeme für eine effiziente Praxisführung. Der Arzt Dr. med. Bernhard Hildebrandt hat mit Lean-Methoden eine hohe Patientenzufriedenheit und wirtschaftlichen Erfolg erreicht.

PharmaBarometer: Herr Dr. Prause: Was kann man in der Arztpraxis von schlanken Industrieunternehmen lernen?

Prause:  Die Philosophie von schlanken Unternehmen besteht in der Optimierung von Qualität, Kosten und Termintreue mit dem Ziel einer hohen Kundenzufriedenheit. Bewährte industrielle Methoden wie schlanke, standardisierte Abläufe, visuelles Management und eine harmonische Arbeitsaufteilung sparen bares Geld und erhöhen die Zufriedenheit von Kunden und Mitarbeitern. Diese Prinzipien lassen sich auch gut auf Arztpraxen übertragen. 

PharmaBarometer: Wie haben Sie das Verbesserungspotenzial durch Lean für Ihre Praxis entdeckt?

Hildebrandt:  Einmal bei einer Werksführung der Firma Audi in Ingolstadt. Hier werden ca. 2.600 Autos pro Tag gebaut, von den keine zwei völlig baugleich sind. Diese perfekte Logistik in einer Arztpraxis zu implementieren, müsste zu einer höheren Wirtschaftlichkeit führen. Zum zweiten ein Vortrag von Dr. Prause, bei dem er gezeigt hat, dass das in der Industrie bereits gelebt wird, dass man Prozesse und Logistik ständig verbessert und damit deutliche Umsatz- und Gewinnsteigerungen erzielen kann. 

PharmaBarometer: Welche Prinzipien der Industrie finden sich in der Arztpraxis wieder?

Prause:  Hier ist es sehr wichtig, dass die Wertschöpfung vom Kunden definiert wird und nicht vom Unternehmer. Alles was nicht zur Wertschöpfung aus Kundensicht beiträgt, ist zunächst Verschwendung. Lange Wartezeiten, viel Suchaufwand, unnötige Materialbestände, lange Laufwege und umständliche Dokumentation sind in diesem Sinne Verschwendung. Ersetzen Sie nun Unternehmer mit Arzt und Kunde mit Patient, dann finden Sie die gleichen Verschwendungen auch in der Arztpraxis.

PharmaBarometer: In welcher Ausgangssituation haben Sie sich vor der Umsetzung befunden?

Hildebrandt: Ich hatte eine bestehende Arztpraxis übernommen, in der noch mit Papierakten gearbeitet wurde und nur die Quartalsabrechnung elektronisch durchgeführt wurde. Viele Dokumentationsarbeiten wurden zum Teil dreimal durchgeführt, wo doch einmal genügen würde. Ständig wurden irgendwelche Akten gesucht, die versehentlich falsch sortiert waren. Ein schneller Zugriff auf die Patientenakte, um z.B. mit einem anderen Arzt über diesen Patienten zu sprechen, war nicht möglich. Es gab nur einen zentralen Terminkalender in Papierform an der Anmeldung. Da wurde mehr mit Tipp-ex und Radiergummi als mit Termineinträgen gearbeitet. An der Anmeldung herrschte kurz gesagt ein schreckliches Chaos, zumal dort auch noch telefoniert wurde. 

PharmaBarometer: Wie startet man die Verbesserung in der Industrie?

Prause:  Im ersten Schritt geht es darum, dass das obere Management überzeugt ist, das Lean etwas bringt. Eine sehr wirksame Übung stellt die Kreidekreisübung dar. Hier beobachten die Führungskräfte über mehrere Stunden an ausgewählten Orten das Geschehen in der Produktion. Danach ist für viele klar, wo Wertschöpfung und Verschwendung stattfindet. Mit einer detaillierten Analyse der alltäglichen Arbeitsabläufe zeigt sich, dass mehr als die Hälfte der eingesetzten Zeit nicht wertschöpfend ist. Anschließend startet man mit den Mitarbeitern die kontinuierliche Verbesserung.

PharmaBarometer: Welche wesentlichen Bereiche bzw. Abläufe haben Sie verbessert?

Hildebrandt: Zuerst haben wir die elektronische Patientenakte eingeführt und die Papierakten von jetzt auf gleich abgeschafft. Das Team hat erst mal gejammert, aber nach nur 4 Wochen wollte keine Helferin mehr zu den Papierakten zurück. Nach drei Monaten stellten die Mitarbeiterinnen fest, dass sie keine Überstunden mehr generieren. Als nächstes haben wir den Terminkalender in elektronischer Form eingeführt, um die Anmeldung deutlich zu entlasten. Jetzt können die Helferinnen dezentral im Behandlungszimmer gleich den nächsten Termin vergeben. Nachdem chaotischen Patientenstrom in der alten Praxis, haben wir in der neuen Praxis die Räumlichkeiten an unsere Bedürfnisse angepasst, um einen kreuzungsfreien und beinahe laminaren Patientenstrom zu erzeugen. In der Praxis haben wir eine einfache Visualisierung (siehe Foto) mit bunten Magneten am Türrahmen realisiert, so dass jeder Arzt ohne Rückfragen weiß, in welchem Behandlungszimmer ein Patient auf ihn wartet. Die Laufwege für die Ärzte sind extrem kurz, in allen Räumen kann durch identische Einrichtung der Arbeitsplätze jeder Routinefall behandelt werden. 

Lean-Management in der Arztpraxis
Visuelles Management – Arztbelegung der Behandlungsräume mit Magneten

PharmaBarometer: Welche Erfahrungen haben Sie bei der Umsetzung gemacht?

Hildebrandt: Unter dem Strich nur Positive. Man muss die Mitarbeiter frühzeitig auf die Veränderungen vorbereiten und in die Planungen einbeziehen. Ich kenne da zufällig einen Fall aus der Industrie, da wurde ein neues Fabrikgebäude auf der grünen Wiese gebaut. Der Chef hat seine Mitarbeiter gebeten, ihm mitzuteilen, wie viele Quadratmeter sie für ihren Arbeitsplatz brauchen und sie beauftragt, ihre Arbeitsplätze optimal einzurichten. Ich habe es dann genauso gemacht und festgestellt, dass die Mitarbeiterinnen sehr genaue Vorstellungen davon hatten, wie ihr optimaler Arbeitsplatz aussehen muss. 

PharmaBarometer: Welche Verbesserungen lassen sich mit Lean erreichen?

Prause: Mit Blick auf meine langjährige Erfahrung mit Verbesserungsprojekten in Industrieunternehmen wurden stets enorme Verbesserungen bei Durchlaufzeit, Produktivität, Kosten und Qualität erreicht. Ich spreche hier von relativen Verbesserungen deutlich über 10% in manchen Bereichen konnten sogar mehr als 50% erreicht werden. 

PharmaBarometer: Welche Verbesserungen und Erfolge haben Sie nach 15 Jahren erreicht?

Hildebrandt: Die Patientenzahlen sind ständig gestiegen und haben sich in 15 Jahren verdoppelt. Gleiches gilt für den Umsatz und auch für den Gewinn. Wichtiger ist aber fast noch, dass die ganzen Maßnahmen dazu geführt haben, dass der Stress für mich und mein Team deutlich reduziert werden konnte. Wir arbeiten entspannter und haben die heute so wichtige „work-life balance“ gut erreicht. 

PharmaBarometer: Was empfehlen Sie als Wertschöpfungsexperte?

Prause: Versetzen sie sich als Arzt einfach in den Patienten und durchlaufen sie mit ihm den Praxisbetrieb, dann merken sie schnell was verbessert werden muss. Informieren Sie sich durch Fachvorträge, Schulungen oder laden Sie einen Fachmann ein. Starten Sie einfach ihre ganz persönliche Lean-Reise

PharmaBarometer: Was empfehlen Sie Ihren Ärztekollegen?

Hildebrandt: Schaut mal über den Tellerrand hinaus. Man muss das Rad ja nicht neu erfinden, aber gerade in der Industrie gibt es viele Arbeitsabläufe, die bereits optimiert wurden und die sich ohne weiteres auf die Arztpraxis anwenden lassen. 

PharmaBarometer: Herr Prause, welche Dienstleistung bieten Sie Pharmaunternehmen für deren Kunden?

Prause: Ich biete Fortbildungen für Ärzte im Bereich Wertschöpfungsmanagement an. Diese lassen sich über die Mitarbeiter im Außendienst als Regionalveranstaltung organisieren oder können als Webinar angelegt werden.


PharmaBarometer: Herr Dr. Prause und Herr Dr. Hildebrandt, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Den Vortrag von Dr. Bernhard Hildebrandt auf der Bayerischen Fachärztetagung finden Sie über den angegebenen Link Link: https://youtu.be/dEFZ-PTcchg

Dr.-Ing. Oliver Prause ist Inhaber der „OPWertschöpfungsberatung“ und verfügt über 22 Jahre Wertschöpfungserfahrung. Er hat mehrere leitende Funktionen in Produktion und Supply Chain bekleidet. In zwei Industriekonzernen hat er erfolgreich ganzheitliche Wertschöpfungssysteme aufgebaut und umgesetzt. Darüber hinaus ist er seit 13 Jahren als Vorstandsvorsitzender für das „Institut für Produktionserhaltung e.V.“ tätig.

Dr.med. Bernhard Hildebrandt ist seit 2004 Dermatologe in eigener Praxis in Neuburg an der Donau. Nach dem Studium der Medizin an der LMU München begann er seine Ausbildung zum Facharzt für Dermatologie in der Praxis von Prof. Dr. med. Christoph Luderschmidt in München. Von dort wechselte er als Forschungsstipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft als Post-Doc an das Scripps Research Institute in La Jolla, Calfornia, USA, bevor er an der TUM am Klinikum Rechts der Isar in München seine Facharztausbildung beendete.

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